Orkan auf hoher See

Heute konnte ich unser Frühstück beidhändig zubereiten. Cornflakes in die Schalen, für mich noch Haferflocken und Sojaghurt, Hafermilch für uns beide. Weil ich Dich überzeugen konnte, dass es für Dich nicht lebensnotwendig ist, dabei auf meinem Arm zu sein.
Ich gebe Dir Deine Schale, hebe Dich vom Lernturm und frage Dich auf dem Weg zum Esstisch, ob Du (wie fast immer in letzter Zeit) auf meinen Schoß oder auf Deinen Stuhl möchtest.

„NICHT AUF MEINEN STUHL! AUF DEN BABYSTUHL!“ Also gut. Babystuhl. Ich muss noch mein eigenes Frühstück holen (war ja wieder einhändig).
„Möchtest Du Deinen Kakao von gestern dazu?“, frage ich noch kurz, während ich den Becher schon in Richtung des Babytabletts bewege. „NEEIIIIIINNNNN!“ Huch, okay. Ich stell ihn zurück auf den Tisch.
„NICHT DA HIN!“
„Okay, wohin denn?“
„DA HIN!“
„Hier?“
„NEEEIIIIINNNN! DA HINNN!“

Es gelingt mir nicht, die richtige Stelle auf dem Tisch zu finden. Du brüllst, tränenüberströmt, biegst Dich in dem Babystuhl durch, dass ich Angst habe, gleich könntest Du runterfallen.
Landläufig bezeichnet man so etwas gern als Tobsuchtsanfall und betrachtet es mit missfallend hochgezogener Augenbraue. „So ein Terz wegen einer solchen Nichtigkeit.“ Nur ist es für Dich keine Nichtigkeit.

Der richtige Begriff für den Auslöser dieses Gefühlsausbruchs lautet „kognitive Dissonanz“. Du hattest eine exakte Vorstellung davon, wo der Becher stehen soll, aber keine Möglichkeit, ihn dorthin zu bewegen. Der Becher war FALSCH, und niemand hat das gerichtet. Dieses FALSCH, diese Ohnmacht, hat Dich überrollt.

Nora Imlau nennt das einen Gefühlssturm. Und dieses Bild ist es, das mir hilft, mich jetzt innerlich von meinem Frühstück zu verabschieden und mich Dir ganz zuzuwenden. Dir zu zeigen, dass ich da bin und Dich sehe, dass ich Dich halte, sobald Du so weit bist. Dass Du nicht allein bist, während Deine kleine Kinderseele von Deinen überwältigenden Gefühlen umhergeworfen wird wie von einem Orkan auf hoher See.

Und nach einer Unendlichkeit von Minuten kannst Du ein verrotztes „Jaaaa“ heulen, als ich Dich zum vierten Mal frage, ob Du auf meinen Arm willst. Vorsichtig hebe ich Dich aus dem Stuhl. Ich gehe jetzt mit Dir um wie mit einem rohen Ei. Jede falsche Bewegung, jede weitere Abweichung von Deinen Erwartungen würde alles wieder losbrechen lassen.

Diesmal klappt es. Ich kann Dir helfen, Dich zu beruhigen, und der Morgen läuft ohne weitere Gefühlsstürme. Sogar das Zähneputzen klappt, auch wenn es eine harte Geduldsprobe für mein hungriges Ich ist. Heute bringt Papa Dich zur Kita, und fröhlich gibst Du At und mir einen Abschiedskuss.

Deine Cornflakes marinieren immer noch in ihrer Hafermilch.

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