Stilldemenz? Es ist anders, als du denkst!

Wir kennen sie alle, die Sprüche und Memes: Wie wir für unsere Kinder mit unseren grauen Zellen bezahlen. Wie vergesslich, verpeilt und verstrahlt wir als frisch gebackene Mütter* sind. Oft beobachten wir uns sogar in der Schwangerschaft schon bei Wortfindungsstörungen und geistigen Aussetzern.

Aber was hat es damit wirklich auf sich? Spoiler Alert: Nicht so viel, wie wir glauben – und zugleich ist es so viel mehr.

Liebling, du hast mein Gehirn geschrumpft!

In der Schwangerschaft schrumpft das Gehirn. Puh. Gruselig, das so zu lesen, oder? Und es stimmt auch noch, wie 2016 nachgewiesen wurde. Die „grauen Zellen“ werden messbar weniger. Und seither konnte zusätzlich belegt werden, dass diese Veränderung auch sechs Jahre nach einer Geburt noch weiterbesteht.

Vergesslichkeit …

Aber bedeutet das nun wirklich, dass wir an Denkvermögen verlieren? Die Forschung kommt zu einem anderen Schluss. Denn in empirischen Studien zu diesem Phänomen konnten unter Laborbedingungen nur sehr geringe Defizite von Schwangeren und Müttern* gegenüber Nicht-Müttern* nachgewiesen werden – und auch hier nur in klar umrissenen Bereichen: Wortfindung und „prospektive Erinnerung“, also: „Ich muss nachher noch …“

Die einzige (mir bekannte) Studie, in der eine eindeutige Minderung der kognitiven Leistung nachzuweisen war, wurde – Trommelwirbel – in häuslicher Umgebung durchgeführt. Sprich: Die Versuchsteilnehmerinnen waren zu Hause und all ihren üblichen Reizen ausgesetzt. Und wer ein Baby oder Kleinkind hat, weiß, wie gut frau* sich in dessen Gegenwart (oder auch nur mit dem vollen Wäschekorb im Nebenraum) zu 100 % auf etwas anderes konzentrieren kann … Richtig. Gar nicht.

… oder selektive Wahrnehmung?

Nur wie passt das damit zusammen, dass viele von uns dieses „Mommy Brain“ so gut kennen? Ich weiß selbst noch, wie ich mich in der Schwangerschaft ständig dabei erwischt habe, Namen nicht mehr abrufen zu können oder Erledigungen einfach zu vergessen.

Aber genau das ist der Punkt: Ich habe mich dabei erwischt. Und weißt du, seit wann ich mich wieder ständig dabei erwische? Seit meiner ADHS-Diagnose vor wenigen Monaten. Der Grund dafür nennt sich „selektive Wahrnehmung“: Wenn unsere Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes gerichtet ist, nehmen wir es mit deutlich feineren Antennen wahr – wie zum Beispiel die unzähligen Schwangeren, die wir mit Beginn unseres Kinderwunsches plötzlich überall gesehen haben. Oder die Vergesslichkeit, die von frischen Müttern* und ADHS-Betroffenen erwartet wird.

Wenn wir also seit Jahrzehnten Begriffe wie „Schwangerschaftsdemenz“ oder „Mommy Brain“ gehört haben, fällt es uns als Schwangeren natürlich sofort auf, wenn wir Dinge vergessen oder nicht abrufen können. „Ach ja, klar – ich bin halt schwanger, so ist das eben.“

Und kommen dann in den ersten Wochen und Monaten mit Baby noch Schlafentzug und der unglaubliche Wust an neuen Aufgaben, Terminen und Lerninhalten dazu, ist es von außen betrachtet kein Wunder, dass wir manchmal nicht mehr wissen, wo oben und unten ist. Stattdessen haben wir jedoch verinnerlicht: „Ach ja, klar – ich hab halt ein Baby, mein Gehirn funktioniert nicht mehr richtig.“

Weniger ist mehr

Spannend wird es aber jetzt: All diese neuen Aufgaben, Termine und Lerninhalte … erfordern ordentlich Gehirnschmalz. Ein Baby zu versorgen ist eine 24/7-Aufgabe mit riesiger Verantwortung und wenig Spielraum für grobe Fehler. Vor allem in den ersten Wochen als Mütter* lernen wir so viele so absolut neue Dinge wie zuletzt vermutlich als Kleinkinder. Nur dass wir damals nicht die Verantwortung für ein anderes Lebewesen hatten. Wie passt das also zusammen mit einem schrumpfenden Gehirn?

Was schrumpft da eigentlich genau?

Betrachten wir doch mal, in welchen Bereichen diese Substanzverluste im Gehirn von Müttern* (übrigens ab Ankunft des Babys auch in denen von Adoptiv- und aktiv fürsorgenden Co-Eltern) stattfinden: Vor allem dort, wo unsere „Theory of Mind“ wohnt, also unser Verständnis für (unser eigenes und) das Innenleben von anderen – unser Einfühlungsvermögen. Was brauchen wir am dringendsten, wenn wir ein Wesen zu versorgen haben, das so gut wie nichts allein kann – und vor allem nicht sagen, was es braucht? Genau. Einfühlungsvermögen.

Ein weiterer Bereich, in dem mit dem Mutter*werden Veränderungen unserer Hirnstruktur nachweisbar sind, ist die Amygdala. Sie ist zuständig für unsere emotionale Bewertung von Situationen und unsere Reaktion auf Gefahren. Auch das sind wichtige Kompetenzen für das Aufziehen eines hilflosen Säuglings, sollte man meinen.

Der Clou ist: Das Mutter*werden ist nicht das erste Mal im Leben, in dem unser Denkorgan einen solchen Prozess durchläuft. Davor hat es bereits die Pubertät erlebt, und in der passiert exakt das Gleiche. Das Gehirn verliert an Grauer Substanz. Und sind wir nach der Pubertät im Allgemeinen dümmer als vorher? Hmmm …

Verschlankte Prozesse

Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass – sowohl in der Pubertät als auch in der Matreszenz – die Graue Substanz zwar an vielen Stellen des Gehirns messbar abnimmt, die Weiße Substanz sich dafür aber verdichtet. Die Graue Substanz sind hauptsächlich die Zellkörper selbst, die zuständig sind für die Speicherung und Verarbeitung von Informationen. Die Weiße Substanz hingegen verbindet diese Zellen miteinander. Sie beschleunigt den Informationsfluss in unserem Gehirn.

Führende Wissenschaftler*innen auf diesem Feld gehen deshalb heute davon aus, dass dieser strukturelle Umbau im Gehirn von Eltern eine Optimierung ist. Jene Bereiche, die bei der Fürsorge für ein Baby die größte Bedeutung haben – Empathie, Verarbeitung sozialer Informationen, Gefahrenbeurteilung –, werden auf Effizienz getrimmt. Der „Wildwuchs“ der vorangegangenen Jahre wird beseitigt, um genau die neuronalen Netzwerke straff und schnell zu machen, die wir brauchen, um bestmöglich für unseren Nachwuchs sorgen zu können.

Eine Frage des Fokus

Wenn du also mal wieder zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten dein Handy suchst oder erst im Supermarkt merkst, dass du kein Geld dabei hast: Du bist nicht plötzlich dumm geworden. Dein Gehirn hat nur einfach wahnsinnig viel auf dem Zettel und strukturiert sich gerade völlig neu.

Tätigkeiten und Aufgaben, die in deinem Leben ohne Kind:er alltäglich waren, verlieren in deiner neuen Rolle als Fürsorgeperson für ein hilfloses Menschlein schlicht an Relevanz. Wen schert’s, wie die Mailadresse deiner Chefin noch mal lautet? Oder ob dein Lieblingsgericht nun bei 160 oder bei 180 Grad in den Ofen muss?

Dafür wette ich mit dir, du kannst mir als Babymama* aus dem Stegreif sagen, was in deinem aktuellen Blickfeld kindersicher ist und was nicht, wie die Windel exakt sitzen muss, damit sie nicht ausläuft, und welchen Entwicklungsschritt dein Kind zuletzt gemacht hat (und ob der im „normalen“ Rahmen war – aber das ist ein anderes Thema für einen anderen Artikel).

Dein Gehirn funktioniert wunderbar. Es hat nur seinen Fokus gerade auf einen Bereich verlagert, der noch im Aufbau ist. Darum sei gnädig mit dir. Egal, was dir bei dem krassen Berg an neu erarbeitetem Wissen und unter akutem Schlafmangel auch durchrutscht: Du leistest gerade Großes – die wichtigste Aufgabe, die ein Mensch erfüllen kann.

Und du machst das toll.

Ein Selfie von Freya im Bett mit Baby unter der Achsel. Freya lächelt müde in die Kamera, das Gesicht des Babys ist unkenntlich gemacht.
Ich Ende 2020 mit meinem neugeborenen Sohn: müde und vergesslich, überfordert und überglücklich.

1 Comment

  1. Edda

    Danke für diesen großartigen Text! Klug, informativ und ermutigend geschrieben

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