Zwei Gesichter einer Mutter
Freya sitzt in einem Restaurant und blickt strahlend in die Kamera. Auf ihrem Schoß liegt seitlich ihre Tochter, die gerade von der Brust abgedockt hat. Das Gesicht der Tochter und die freiliegende Brust sind unkenntlich gemacht. Im Hintergrund sind andere Restaurantgäst*innen zu sehen.

Zwischen dieser souverän im Restaurant stillenden Mutter und einer verzweifelt am Boden kauernden Versagerin liegen zwölf Stunden.

Die eine könnte sich nicht weniger darum scheren, ob sich womöglich jemand an der Nahrungsaufnahme eines Babys in der Öffentlichkeit stören zu müssen meint. Sie ist glücklich und stolz, Stillen sichtbar zu machen und so auch für den Rest der Gesellschaft wieder ein Stück mehr zu normalisieren.

Die andere hat am nächsten Morgen zwischen 7 und 8:30 den großen Bruder besagten Babys mindestens zehnmal gefragt, ob er jetzt bereit ist zum Zähneputzen. Manchmal ist er es irgendwann tatsächlich, für gewöhnlich endet diese Diskussion aber mit: „Machst du jetzt mit oder muss ich dich zwingen?“

„Nich zringen!“

„Dann mach mit.“ Und der Mund geht auf und es darf entspannt geputzt werden.

Für gewöhnlich.

Heute hat Ac zwingende Gründe, sich allen Argumenten der Fürsorgepflicht und Gesundheitsvorsorge zu widersetzen. Ich nehme meine Gründe als ebenso zwingend wahr und zwinge ihn nach Ablauf des Zeitfensters für einen entspannten Aufbruch in die Kita mit meiner körperlichen Überlegenheit tatsächlich. Mein erstes Scheitern an den Ansprüchen, die ich als bedürfnisorientierte Mutter an mich selbst stelle.

Und es ist der blanke Horror.

Dieselbe kleine Seele, die gestern von ihren eigenen Gefühlen so gebeutelt war, dass mir das Herz brechen wollte, erfährt heute von ihrer wichtigsten Bindungsperson Gewalt. Wird schreiend und zappelnd mit einem Arm fixiert, während die andere Hand eine Zahnbürste in den Mund schiebt, der flehentlich ruft: „Nich zringen, Mama, nich zringen!“

Danach ist an Aufbruch nicht mehr zu denken. Ac wälzt sich haltlos wütend und heulend am Boden, während ich tränenüberströmt daneben knie. Ich soll weggehen. Als ich aufstehe, ruft er angsterfüllt nach mir. Also lasse ich mich ein Stück weiter gegen die Wand sinken. Und versage ein weiteres Mal.

Denn diesmal habe ich nicht die Kraft, ihn in seinem Gefühlssturm zu begleiten. Ich schäme mich so sehr und bin von diesem Kampf so ausgelaugt, dass ich ihn kaum ansehen kann. Geschweige denn seine Gefühle verbal für ihn einordnen oder Trost anbieten. Alle paar Minuten schaffe ich es, ihm zaghaft eine Hand anzubieten, von der er nicht angefasst werden will.

War es wirklich SO wichtig, ihm die Zähne zu putzen? Hätte ich es nicht heute mal gut sein lassen können?

Aber was, wenn er sich dann irgendwann gar nicht mehr überzeugen lässt, so wie beim Baden?

Und so drehe ich mich im Kreis, während Ac brüllt und der Morgenkreis in der Kita in unerreichbare Ferne rückt.

Am Ende beruhigt er sich so weit, dass wir aufbrechen können. Acs Heulen ist in ein eintöniges unartikuliertes Jammern übergegangen, und es kostet mich all meine nicht mehr vorhandene Kraft, ihm nach fünf Wegminuten nicht auch noch das „Halt die Fresse!“ vor den Latz zu knallen, das heiß in mir pulsiert.

Diese Errungenschaft überstrahlt sogar die Überredungskünste, die es braucht, um ihn zu bewegen, in die Kita zu gehen. Auf dem Heimweg kommen mir noch einmal die Tränen, und trotzig verberge ich sie nicht:

Auch das erschöpfte Weinen einer Mutter* sollte der Gesellschaft viel öfter vor Augen gehalten werden. Damit es vielleicht irgendwann nicht mehr normal ist, das allein aushalten zu müssen.

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