Was ist Matreszenz?

Ich würde gern schreiben, die Matreszenz wäre in aller Munde – doch leider ist sie das nicht, obwohl das Wissen darüber Leben und die gesamte Gesellschaft verändern kann. Wenn du aber schon einmal über den Begriff gestolpert bist und jetzt genauer wissen möchtest, was das ist, dann bist du hier an der richtigen Stelle.

Folgendes erfährst du in diesem Artikel:

Die Matreszenz ist eine Entwicklungsphase

Das Wort Matreszenz ist angelehnt an Adoleszenz und wurde 1973 von der Soziologin Dana Raphael als Konzept formuliert – und erst 2008 von der Psychologin Dr. Aurélie Athan an der Columbia University wiederentdeckt und in den Fokus der Forschung genommen. Im Deutschen haben die Doulas Natalia Lamotte und Sarah Galan die schöne Entsprechung Muttertät geprägt, die erst seit 2021 so langsam den Weg in den gesellschaftlichen Diskurs schafft.

Und was bedeuten diese Begriffe nun?

Die Anlehnung an Adoleszenz bzw. Pubertät kommt nicht von ungefähr. Stell dir die Muttertät vor wie eine zweite (dritte, vierte …) Pubertät – nur dass die gleichen umwälzenden Veränderungsprozesse in einem Bruchteil der Zeit stattfinden. Wen wundert’s, dass wir da als Mütter* manchmal nicht mehr wissen, wer wir eigentlich sind? Unsere komplette Identität befindet sich im Wandel. Und zwar mit jedem Kind aufs Neue.

* ob cis, trans oder nichtbinär

Wen betrifft sie?

Die Muttertät ist eine Phase im Leben von Menschen, die die Haupt-Fürsorgeverantwortung für ein Baby oder Kind übernehmen. In Deutschland wie in den meisten Regionen der Welt sind das noch immer in überwältigender Mehrheit weiblich gelesene Personen – ich nenne sie hier Mütter*. Die aktuelle Forschung belegt, dass auch Adoptivmütter diesen Prozess erfahren. Das zeigt, dass es keine an die Geburt gebundene Entwicklung ist. Und mittlerweile ist nachgewiesen, dass auch Menschen, die sich nicht als Frauen identifizieren und/oder mit Y-Chromosom geboren sind, in die Matreszenz kommen, wenn sie die im Patriarchat geprägte Rolle der „Mutter“ übernehmen (das gilt auch für voll involvierte Väter). Um auch die Realität dieser Menschen anzuerkennen und sie mit einzuschließen, verwende ich in meinen Texten den Genderstern.

Was passiert in der Matreszenz?

So viele von uns haben in den ersten Jahren des Mutter*werdens das Gefühl, uns zu verlieren. Zwischen Entwicklungsschüben, Windeln wechseln und Übernächtigung verschwindet jedes Gefühl für die Person, die wir einmal waren – während unsere Sozialisation uns als Norm vorgaukelt, nach einem Jahr sollte frau* doch bitte wieder in ihre alten Jeans passen und ihre alten Rollen als Freund*in, Kolleg*in, Partner*in etc. unverändert wiederaufnehmen.

Dabei werden in dieser Phase nicht nur unsere äußeren Lebensumstände vollkommen auf den Kopf gestellt, sondern auch in unserem Gehirn finden umwälzende Veränderungen statt, wie sie in diesem Ausmaß bis vor Kurzem nur aus der Pubertät bekannt waren. Das Gehirn strukturiert sich noch einmal deutlich um, vor allem in den ersten zwei bis drei Lebensjahren des Kindes (und zwar jedes Kindes!). Das wirkt sich auf sämtliche unserer Lebensbereiche aus: unsere Denk- und Handlungsmuster, unsere Gefühlswelt, unsere Beziehungen, unser Wertesystem … oder, wie Dr. Athan es zusammenfasst: es verändert uns biologisch, psychisch, sozial, kulturell und spirituell.

Warum sollten wir uns mit dem Thema befassen?

Wenn wir – ohne diese Tatsachen zu kennen – merken, dass uns die Rückkehr in unser altes Ich nicht gelingt, fühlen wir uns unfähig, minderwertig, falsch … die Liste lässt sich beliebig erweitern. Aber würde irgendjemand von einer Zwanzigjährigen erwarten, dass sie mit Ende der Pubertät wieder zum Kind wird? Natürlich nicht. Und genau darum ist es mir so ein Anliegen, das Phänomen bekannter zu machen. Damit wir alle verständnisvoller und wohlwollender mit uns selbst und miteinander umgehen können in dieser Zeit, die unsere Welt von innen nach außen kehrt.

Der Preis des Muttermythos

Das Verständnis von Mutterschaft (hier schreibe ich sie ausdrücklich ohne *), das sich vor allem über die letzten zwei- bis dreihundert Jahre ausgebildet hat, blendet die dahinterstehende Person völlig aus. Ihre eigenen Bedürfnisse und ihre Persönlichkeit werden in unserer Kultur fast ausschließlich in Bezug auf ihre Auswirkungen auf andere betrachtet. Die Mutter, wie die westliche Gesellschaft sie seit der Epoche der Aufklärung versteht, ist eine starre Hülle – einzig und allein auf das Wohl von Kind:ern und Familie ausgerichtet. Die Frau*, die sie mit der Ankunft eines Säuglings von jetzt auf gleich ausfüllen soll, muss zusehen, wie sie hineinpasst.

Und so stutzen wir uns zurecht wie Aschenputtels Schwestern ihre Füße, um uns irgendwie in diesen verflixten Glasschuh hineinzuquetschen. Für das Wahrnehmen und Annehmen einer Veränderung in vielen Dimensionen unserer Identität ist da kein Platz. Die meisten von uns lässt das überlastet und mit einem Gefühl von Unstimmigkeit zurück, manche macht es krank bis zur postpartalen Depression oder einem Burnout.

Hier werden die Weichen für den Rest unseres Lebens gestellt

Dabei steckt in der Lebensphase der Matreszenz ein riesiges Potenzial. Wenn wir es annehmen – und das setzt natürlich überhaupt erst einmal das Wissen darüber voraus! –, können wir in diesen Jahren tief in die Selbstfindung und Persönlichkeitsentwicklung gehen. Wir können uns fragen: Wer bin ich jetzt, da ich auch Mutter* bin? Und mit dieser Frage beginnt eine Spurensuche nach der Frau*, die wir im tiefsten Inneren sind und vielleicht immer schon waren. Jetzt ist die Zeit, sie ans Licht zu bringen, zu stärken und zu feiern.

Was brauchen wir dafür?

Doch dazu braucht es Unterstützung. Wir brauchen den Raum, uns mit uns selbst zu befassen. Das sprichwörtliche Dorf ist nicht nur dafür notwendig, ein Kind großzuziehen, sondern vor allem auch, um seine Mutter* in ihrem Neuwerden zu begleiten und zu bestärken.

Und es braucht Verständnis. Einerseits müssen wir selbst begreifen und erforschen, was die Muttertät mit uns macht, andererseits brauchen wir Menschen um uns herum, die anerkennen, dass wir gerade eine höchst sensible und fordernde Entwicklung durchlaufen. Genau wie Teenager heute nicht mehr als „verrückt gewordene Kinder“ gelten, weil man um die Hormonfluten und Identitätsbildung weiß, die ihr Leben bestimmen, sind auch Mütter* auf dieses Verständnis angewiesen.

Deshalb beleuchte ich neben meinem Coaching-Angebot auch hier auf meinem Blog immer wieder Aspekte und Auswirkungen der Muttertät auf verschiedenste Lebensbereiche, um das Wissen über diese umwälzende Lebensphase zugänglicher zu machen. Damit mehr Mütter* in eine wohlwollendere Haltung sich selbst gegenüber kommen können.

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